»Sie sind Getäuschte und Opfer« – Über die Ausbeutung Scheinselbständiger. Ein Gespräch mit Frank Schmidt-Hullmann

12.8.2009 – 16:12 Uhr
von Gitta Düperthal, Frank Schmidt-Hullmann

Interview: Gitta Düperthal Frank Schmidt-Hullmann ist Leiter der Abteilung Internationales und Europäische Baupolitik in der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) Immer mehr Arbeiter – gerade aus osteuropäischen Ländern – werden als Scheinselbständige für ein sogenanntes Honorar, das weit unter dem Mindestlohn liegt, ausgebeutet. Häufig wird ihnen nahegelegt, eine Generalvollmacht zu unterschreiben. Welche Folgen hat das? Am Jahresende melden sich das Finanzamt und andere Behörden – beispielsweise die Berufgenossenschaft.

Auf Grund der Gewerbeanmeldung geht man davon aus, daß ein inländisches Unternehmen eröffnet wurde. Gewerbesteuer fällt an, Umsatzsteuer und so weiter. Zahlungen in unbekannter Höhe werden geltend gemacht, den Betroffenen bleibt meist vom Lohn kaum etwas übrig. Dazu kommt: Ein Arbeitgeber kann gegenüber einem Beschäftigten für Unterkunft und Verpflegung nur begrenzte Kosten erheben – ein Selbständiger kann aber beliebig belastet werden. Oft spielen Vermieter und Subunternehmer, der die Scheinselbständigen beschäftigt, zusammen: Hohe Mieten werden verlangt. Bußgelder entstehen, falls der bevollmächtigte Organisator irgendeine Anmeldung nicht vorgenommen hat. Für Betroffene ist bei Arbeitsaufnahme nicht ersichtlich, was das alles kostet. Vom Wohlwollen der deutschen Behörden hängt ab, ob sie sagen: Hier geht es um Scheinselbständigkeit – weil der Betroffene getäuscht wurde, verfolgen wir nur den Arbeitgeber. Bei der Gewerbesteuerstelle ist z.B. nicht sichergestellt, ob man berücksichtigt, daß der Scheinselbständige in Wirklichkeit Arbeiter ist. Wie vertritt die IG BAU die Interessen der Arbeiter? Wir organisieren die Kolleginnen und Kollegen und versuchen, ihnen zu helfen, ihre Lohnansprüche durchzusetzen. Wir nutzen zum Beispiel die Generalunternehmerhaftung, die für alle Branchen gilt, in denen es einen Mindestlohn nach dem Arbeitnehmer-Ensendegesetz gibt. Auftraggebern und Generalunternehmern, die am Einsatz von Scheinselbständigen am meisten verdienen, bescheren wir durch unsere Hilfe für die Betroffenen zugleich höhere Kosten. Wir verlangen immer den regulären Mindestlohn für Arbeiter, auch wenn im »Selbständigenvertrag« kein fixierter Lohn steht. Das hilft dem Betroffenen, hat aber zugleich einen pädagogischen Effekt auf den Chef. Wie gehen Sie vor? Die Telefonnummer des Europäischen Wanderarbeiterverbandes ist z.B. rumänischen Kollegen längst bekannt. Darüber bekommen IG-BAUler Kontakt. Das passiert meist erst, wenn der Lohn seit Monaten aussteht. Die auf dem Bau schwer arbeitenden Kollegen sind zu diesem Zeitpunkt mitunter bereits auf Lebensmittelspenden angewiesen. Manchmal informiert uns eine Arbeitsschutz-Kontrollbehörde oder die Finanzkontrolle Schwarzarbeit. Dann motivieren wir die Betroffenen in ihren Unterkünften oder auf den Baustellen für kollektive Aktionen, um anschließend beim Generalunternehmer die Zahlung ihrer Löhne zu erreichen. Seitens der deutschen Behörden haben die Wanderarbeiter häufig Schwierigkeiten zu erwarten. Muß sich das nicht ändern? Ja. Gibt es klare Anhaltspunkte dafür, daß Scheinselbständigkeit vorliegt, dürfen Betroffene nicht als Schwarzarbeiter verfolgt werden. Sie sind Getäuschte und Opfer; haben nicht einmal die Formulare verstanden, mit denen sie angemeldet wurden. Im Gegenteil sind sie meist davon ausgegangen, daß es sich um einen Arbeitserlaubnisantrag handelt. Hilfreich wäre, das Anfang des Jahrzehnts eingeführte und gleich wieder abgeschaffte Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit erneut in Kraft zu setzen. So wäre leichter zu erkennen: Ist das nun echte Selbständigkeit oder Scheinselbständigkeit? Wichtig wäre auch, Betroffene, die aussagen, von Verfolgung freizustellen. Häufig werden sie von Arbeitgebern geimpft, über die wahren Verhältnisse nichts preiszugeben; man droht ihnen, daß sie sonst keinen Cent für ihre Arbeit erhielten. Derzeit liegt es im Ermessen der Behörden, die Arbeiter hinterher nicht wegen Steuerschulden oder Ähnlichem zu verfolgen – davon müssen wir wegkommen.
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