Moderne Sklaverei – Wie Gewerkschaften illegalen Arbeitsmigranten zu ihrem Recht verhelfen

4.9.2006 – 20:28 Uhr
von Nick Brauns in „Junge Welt“ 01.08.2006
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Einen besonders drastischen Fall von Zwangsarbeit mitten in Europa deckten italienische und polnische Ermittler Mitte Juli auf. In Apulien befreite die Polizei 113 Polen aus einem Arbeitslager. Sie mußten täglich rund 15 Stunden auf dem Feld arbeiten – teilweise ohne Pause. Ihre Ernährung bestand aus Wasser und Brot. Bewaffnete Männer mit Hunden überwachten sie rund um die Uhr. Wer nicht spurte, wurde geschlagen. Die Opfer stammten aus dem armen Osten und Süden Polens und wurden mit dem Versprechen auf Arbeit nach Italien gelockt. Dort mußten sie für Hungerlöhne von zwei oder drei Euro die Stunde arbeiten.

Das Sklavenlager in Italien ist sicherlich ein Extremfall. Doch unter ähnlichen Bedingungen arbeiten illegale Einwanderer auch in anderen europäischen Staaten. Um Tariflöhne zu umgehen, wird die Arbeitszeit auf bis zu 19 Stunden am Tag ausgeweitet, aber nur die vertraglich vereinbarte Regelarbeitszeit bezahlt. Oder die Arbeiter erhalten Tariflohn und müssen einen großen Teil des Geldes anschließend für Unterbringungskosten zurückzahlen. »Aufgrund ihres fehlenden Aufenthaltstitels und der damit verbundenen Angst vor Statusaufdeckung sind sie kaum in der Lage, sich gegen Betrug oder Unterbezahlung durch Arbeitgeber zu wehren«, heißt es in einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. »Illegal aufhältige Migranten sind deshalb dem Risiko ausgesetzt, in ein Arbeitsverhältnis zu geraten, das durch Zwangsarbeit geprägt ist«, wird eine »strukturell bedingte Erpreßbarkeit« beklagt. Schwer zu organisieren Der Schutz der Menschenrechte und Arbeitsstandards für Arbeitsmigranten unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem rechtlichen Status müsse oberste Priorität besitzen, wenn die Europäische Union die Ausbeutung illegaler Migranten stoppen wolle, forderte die Europäische Gewerkschaftsfbund nach Auflösung des italienischen Sklavenlager. Es gelte, Brücken aus der Illegalität für Arbeitsmigranten ohne Papiere zu schaffen, damit diese ohne Furcht vor einer sofortigen Abschiebung über ihre Ausbeutungsbedingungen berichten könnten. Wenn sich illegal beschäftigte Arbeiter finden, die bereit sind, vor Gericht für ihre Rechte einzustehen, sei ihnen die Unterstützung der Gewerkschaft sicher, erklärt die Pressesprecherin der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten (NGG), Karin Vladimirov. So gelang es der Gewerkschaft in der Fleischbranche mehrfach erfolgreich, gegen ausstehende oder zu geringe Löhne von Schlachtkolonnen zu prozessieren. Doch viele Illegale wüßten gar nicht, daß sie illegal beschäftigt werden, meint Vladimirov. So würden in Rumänien Fleischzerleger unter falschen Angaben angeworben. Die Verträge können sie aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht verstehen. In Deutschland werden ihnen die Pässe abgenommen. Sie werden separat von ihren deutschen Kollegen eingesetzt und nachts in Containern oder Arbeiterunterkünften untergebracht. Bei einer Razzia entdeckte die nordrhein-westfälische Polizei im vergangenen Jahr polnische Schlachthofarbeiter, die in einem fensterlosen Schweinestall übernachten mußten. Wenn solche illegal beschäftigten Arbeitsmigranten gegen ihre Arbeitsbedingungen protestieren, droht – wie auch im Falle eines Arbeitsunfalls – die sofortige Heimschickung. Kontakte zur Gewerkschaft können diese Wanderarbeiter nicht aufnehmen. Und falls die Gewerkschaft in einem Betrieb nicht bereits organisiert ist, darf sie dort nicht von sich aus tätig werden. Sprachprobleme stellen ebenfalls große Barrieren da. Vorreiter IG BAU Dieser Herausforderung stellt sich seit rund einem Jahr der auf Initiative der Gewerkschaft IG BAU gegründete Europäische Verband der Wanderarbeiter EVW. »Wer arbeitet, hat einen Lohnanspruch. Wir gehen unterschiedslos auf die Leute zu und fragen nicht, ob jemand legal oder illegal ist«, meint der Geschäftsführer des Verbandes, Matthias Kirchner. 75 Prozent der 1500 Verbandsmitglieder stammen aus Polen, die zweitstärkste Gruppe aus Rumänien, dazu kommen Ungarn, Bulgaren und Türken. Muttersprachliche Außendienstmitarbeiter suchen die Entsende- und Saisonkräfte direkt an ihrer Arbeitsstelle und in den Unterkünften auf. Ziel ist die Durchsetzung von Mindestlohnansprüchen der Entsendearbeiter im Baugewerbe und von Tariflöhnen für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Viele Arbeiter reisen schon verschuldet an, denn sie mußten sich ihren Job erst teuer mit bis zu 1500 Euro erkaufen, die sie sich in ihren Herkunftsdörfern bei Freunden oder Verwandten geliehen haben. Wenn ein Auftrag zu Ende geht, bleibt die Bezahlung schon mal monatelang aus. »Wir müssen stehlen gehen, weil wir nichts mehr zu kauen haben«, beklagten sich rumänische Arbeiter beim EVW. Arbeitsgerichte zu langsam Juristische Hilfe bringt den Betroffenen meist nichts, weil das Verfahren vor dem Arbeitsgericht zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde und der betroffene Arbeiter zurück in seine Heimat muß. Statt dessen sucht der Verband das Gespräch mit dem zuständigen Generalunternehmer, der laut Gesetz auch für ausbleibende Zahlungen seiner Subunternehmer haftet. Kommt es zu keiner Einigung, organisiert der Verband öffentliche Proteste und mobilisiert die Presse. Im Unterschied zur Gewerkschaft unterliegt der Verband keiner Friedenspflicht und kann sofort zu Arbeitsniederlegungen aufrufen. In einem halben Jahr habe der EVW rund eine halbe Million Euro direkt an seine Mitglieder ausgezahlt, sei es in Polen, Rumänien oder sonstwo in Europa, bilanzierte Matthias Kirchner auf der letzten Mitgliederversammlung Ende April. Ein Problem sind jedoch laut Kirchner die »zufriedenen Betrogenen«, die kein Interesse an der Durchsetzung ihrer Rechte haben. Auch NGG-Sprecherin Vladimirov weiß von rumänischen Fleischereiarbeitern, für die ein Stundenlohn von zwei oder drei Euro viel Geld ist, das sie nicht durch Proteste aufs Spiel setzten wollen. Dazu kommt die Angst: »Wenn ihr nicht spurt, hetzen wir die Zigeuner auf eure Familien.« Von solchen Drohungen berichteten rumänische Bauarbeiter dem EVW. Dagegen ist auch eine Gewerkschaft machtlos. www.migrant-workers-union.org