Abzocke von Wanderarbeitern auf Deutschlands größter Baustelle – Wie ein Puzzle: die Details kommen ans Licht

29.3.2006 – 15:54 Uhr

„Auf der Baustelle Neue Landesmesse Stuttgart kam ich mit Peter Neugebauer von der IG BAU gegen 15 Uhr an. Dort haben wir nur zwei Typen in den Unterkünften getroffen, während die Anderen noch auf der Baustelle waren. Einer von ihnen, ein älterer und eigentlich sympathisch wirkender Mann, hat uns mit Empörung von der gestrigen Zoll-Razzia erzählt. Ihm sei sein Geld (1000 €) mit Gewalt abgenommen worden. Er hat uns den Durchsuchungsbeschluss gezeigt usw. Auf die Fragen oder Vermutungen, ob die Arbeiter vielleicht zu wenig Lohn bekommen, bzw. zu lange arbeiten, gab er dann ‚korrekte’ und eloquente Antworten: sie hätten immer rechtzeitig und vollständig von der Firma den Lohn bekommen, sie würden immer 7 Stunden pro Tag in zwei Schichten arbeiten, alles wäre völlig in Ordnung und er verstehe nicht, was die Zollbeamten wollten. Daraufhin beschlossen wir, auch mit den anderen ‚normalen’ Arbeitern zu reden, wenn sie von der Baustelle um 18 Uhr zurückkommen. Jetzt hatten wir Zeit, die Situation zu analysieren. In der Zwischenzeit hatten wir auch erfahren, dass zwei von den Arbeitern vor den Zollbeamten ausgepackt hatten. Wir mussten sie unbedingt ausfindig machen. Die Erfahrung von Peter machte sich jetzt bemerkbar. Er hat mir nämlich erklärt, dass das Ganze nach einem gewissen Schema abläuft: die Leute arbeiten tatsächlich 10 Stunden pro Tag (von wegen zwei Schichten!), dürfen aber nur 7 Stunden angeben (Mindestlohn). Das Ganze wird von dem ‚netten’ älteren Mann beaufsichtigt, der mit dem betrügerischen Unternehmen unter einer Decke steckt und eigentlich ein Kapo ist, wofür er auch ordentlich Geld kassiert (daher diese 1000 € und mehr in Bar im Container). Alles konnte man wie ein Puzzle zusammenbauen. Und alles hat sich als wahr erwiesen! Wir haben auch sehr viel Glück gehabt. Wir sind eine Stunde vor der Verabredung gekommen und haben genau die zwei Arbeiter erwischt, die ausgesagt hatten. Sie wollten gerade nach Hause abreisen. Sie haben uns die ganze Geschichte geschildert und es war genau so, wie es Peter vermutet hat. Unglaublich! Alle schaffen 10 Stunden und mehr pro Tag, bekommen selbstverständlich entsprechend weniger Geld und werden von eigenen Landsleuten (der alte Kapo) betrogen. Wahnsinn! Die Beiden sind in den Wanderarbeiterverband eingetreten und dann nach Polen gefahren. In zwei Wochen geht’s dann wieder auf eine andere Baustelle in Deutschland. Die anderen Arbeiter hatten Angst auszusagen, vor dem Zoll und vor uns. Schade.“ Situationsbericht von Diplom-Dolmetscherin Joanna Zarczynska, die im Auftrag des EVW den Stuttgarter IG BAU-Sekretär Peter Neugebauer zu polnischen Wanderarbeitern begleitete. Gegen deren Firma hatte die Finanzkontrolle Schwarzarbeit ein Ermittlungsverfahren wegen Mindestlohnverstoßes eingeleitet.